KOSOVO / BELARUS – Oktober : 2018

Im Mai dachte ich, wir stehen nach dem Abstieg richtig mies da, heute sind wir mindestens drei Schritte weiter. Das Bild von Eintracht ist desaströs. Präsidium, AR und VF irrlichtern durch die 3. Liga, Pedersen gescheitert, die Mannschaft ein Trümmerhaufen. Soeren Oliver Voigt, den eine erhebliche Mitschuld an der jüngsten negativen Entwicklung trifft, darf weiterhin sein Unwesen treiben. Der AR ist entweder zu schwach oder nicht willens, uns endlich von ihm zu befreien, von dem Typen, dem Fans immer suspekt waren und dem offensichtlich auch der Vater des Erfolges, Torsten Lieberknecht, ein Dorn im Auge war und ist. Eintracht ist im Moment schwer zu ertragen.

Ich will eine bequeme Anreise zum Flughafen, die Niedersächsische Landeshauptstadt fällt ins Auge. Dafür kein Direktflug, über Wien geht’s nach Prishtina. Das zweite Teilstück mit einer Bombardier CRJ 900. Nie gehört vorher. 88 Plätze hat die Maschine und ist nicht voll besetzt. Macht irgendwie klar, dass ich nicht in Richtung einer Topdestination im touristischen Sinne unterwegs bin. Was mir aber egal ist, eigentlich ja noch mehr Spaß bereitet als ohnehin schon.

In Prishtina ist es angenehm spätsommerlich warm, die Jacke kann zu Hause bleiben. Die Stadt überrascht mich sehr positiv. Der lebendige Boulevardi Nene Tereza oder die Rexhep Lupi mit den ganzen Kaffees, bei denen die Temperaturen ein Sitzen im Freien noch locker hergeben. Natürlich ist Prishtina mit 200.000 Einwohnern nicht allzu groß und man ist recht schnell durch mit den Highlights, aber das sagt ja noch nix über das Lebensgefühl.

Die Stadt ist sehr lebendig. So Balkan-lebendig oder Osteuropa-lebendig mit viel Handel auf der Straße, vielen kleineren Märkten oder Basars in vielen kleinen, engen, verwinkelten Gassen und viel Goldschmiedekunst. Da ist zu verschmerzen, dass es eigentlich recht wenig Highlights gibt. Die Moscheen sind solche, das Newborn-Denkmal für die Unabhängigkeit Kosovos zählt dazu. Und dann ist da noch die nicht fertiggestellte Christ-Erlöser-Kirche. In direkter Nachbarschaft steht die Nationalbibliothek, deren kubistische Struktur die Blicke automatisch auf sich zieht. Schon abgefahren, Kubus reiht sich an Kubus, Kubus türmt sich auf Kubus.

Im Innern wirkt die Bibliothek dann auf den ersten Blick ziemlich klein in der Empfangshalle, bei genauerem Hinsehen aber sieht man die Tiefe, denn nach dem Empfangskubus kommt der nächste, daran schließt sich der nächste an usw. Schon irgendwie abgefahren das Teil.

Ein Highlight im eigentlichen Sinne ist der Clinton-Boulevard nicht. Und das Clinton-Denkmal auch nicht. Aber die Bedeutung ist es halt, auf die es hier ankommt. 1999 verfügt er den Einsatz von NATO-Truppen, um dem Treiben der serbischen Truppen Einhalt zu gebieten. Damit wird die Vertreibung hunderttausender Albaner gestoppt. Der Weg zur Unabhängigkeit von Serbien ist frei, 2008 wird sie vollzogen. Clinton sind sie bis heute unendlich dankbar.

Beim Newborn-Denkmal steht der Palast der Jugend und des Sports – eine Mehrzweckhalle mit zwei Arenen (8.000 und 3.000 Zuschauer) und einem Einkaufszentrum, zwei Kongresshallen und einer Bibliothek. 1977 eröffnet 2000 renoviert, heute ist mit KB Pristina der Basketball Hauptmieter.

Eher durch Zufall entdecke ich dort einen unscheinbaren Hinweis auf die UEFA Futsal Champions League. Wusste gar nicht, dass es sowas auch gibt, aber hätte ich ja auch drauf kommen können. Es gibt ne Youth League, dann lassen sich die hohen Herren der UEFA doch ein solches Format nicht entgehen. Warum aber wird das so gut wie gar nicht beworben?

Irgendwie reizt mich dieses Format in dem doch alles andere als fit aussehenden Jugendpalast. Die UEFA legt ja doch immer viel Wert auf Hochglanz bei ihren Formaten und das scheint mir hier ein schöner Kontrast zu werden. Und es wird der erwartete Kontrast. Ein Hochglanzformat in einer heruntergerockten Bude. Abgefahren. Sporting CP gewinnt 3:2 gegen LSM Lida in einem unterhaltsamen Spiel.

Aber das ist eben noch kein Spiel in der Liga, welches dann einen Tag später startet. KF Flamurtari – KF Gjilani im Stadiumi i Flamurtarit. Okay, Stadion ist jetzt schon eine bissel großzügige Bezeichnung und der Fußball ist jetzt auch nicht top. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Die Jungs sind mit dem Herzen dabei in einer Liga, in der kaum Geld gezahlt werden kann und das Stadion besticht dann durch die Kleinigkeiten, wobei die abgedrehte Tribüne ja keine Kleinigkeit ist. Stahlrohrtribüne neu interpretiert. Hier ist alles aus Stahl. Auch die Sitzplätze. Dass an der einen oder anderen Platte der Rost nagt, egal. Es trägt, es trägt sogar fröhlich hüpfende Ultras von Flamurtari. Das Klo fügt sich in dieses rustikale, aber sehr herzliche Ambiente ein. Und die Leute sowieso. Wir bekommen zwar den Kulturunterschied beim Fußball zwischen Kosovo = Kürbiskerne kauen gegenüber Dtl. = Bratwurst und Bier nicht geklärt, aber das ist eigentlich auch egal, weil es ja eigentlich ums Erzählen geht, um die Neugier aufeinander – Deutschland hier – Kosovo da – oder umgekehrt.

Es ist gewissermaßen die Fortsetzung des Gespräches mit Mladen. Durch Zufall treffe ich den jungen Kosovo-Albaner vor und nach dem Spiel auf dem Basar, über den ich so gerne schlendere. In Kassel war er paar Jahre, spricht passabel Deutsch. Sein Sohn spielt bei Flamurtari. Den habe ich im Stadion zwar nicht getroffen, aber trotzdem ist sein Papa stolz, dass ich mir seinen Verein ausgesucht habe. Dass es der Spielplan war, sage ich ihm dann nicht. Er war sogar mal in Braunschweig, Geschmack hat er also. Wir erzählen noch bissel über den Kosovo und da ist sie dann wieder, diese Dankbarkeit gegenüber Clinton.

Am nächsten Tag geht’s weiter nach Minsk.

Seit dem 27. Juli 2018 sind in Weißrussland visafreie Aufenthalte von bis zu 30 Tagen möglich, bis dahin war es deutlich schwerer, das Land zu besuchen. Damit rutscht ein Trip in das Land auf meiner Liste weit nach oben. Ich will mir mein eigenes Bild machen, so wahnsinnig viel ist über das Land nicht bekannt, Lukaschenko hat lange Zeit versucht, das Land mehr oder weniger abzuschirmen. Ein interessantes Land, ich bin angetan.

Zwei, drei Berichte gibt es, die machen mich neugierig. Und dann noch diesen hier. Es ist ja nun definitiv nicht meine Aufgabe, den Ruf von Minsk zu retten, aber wenn ich solchen undifferenzierten Mist lese, dann fühle ich mich schon herausgefordert.

Natürlich viel Platte, der Stil, der auch Minsk ohne Ende prägt. Muss man nicht schön finden, ist dennoch der Stil so vieler Sowjetstädte. Bei Minsk hat das allerdings zusätzlich eine tragischen Hintergrund. Dazu später. Fakt ist, um den jeweils unterscheidbaren Stil von einer (Sowjet)Stadt zur anderen zu sehen, muss man sich schon anstrengen, ins Detail gehen. Fakt ist aber auch, während wir in Deutschland unseren Individualismus hoch halten und über die Braunschweiger Weststadt die Nase rümpfen, die Weststadt, die in noch den 80ern als topmodernes Wohngebiet gefeiert worden ist, hat der Russe keine großen Probleme, in diesen teils riesigen Wohneinheiten zu wohnen, die Wohnungen selber sind meist gar nicht so groß. Viele haben ja auch noch ihre Datscha.

Paar Kirchen zieren das Stadtbild und gerade die Ecke um das historische Rathaus herum ist recht hübsch. Dazu einige sehr weitläufige Parks. Ohnehin ist hier der Begriff von Weite im Stadtbild nochmal neu interpretiert. Gerade am Prospekt des Sieges, wo auch das Museum des großen Vaterländischen Krieges steht.

Oder am Unabhängigkeitsplatz mit dem großen Lenin-Denkmal vor dem Parlamentsgebäude. Bis 1991 der Leninplatz

Auch der Markt am Sportpalast wirkt größer, gerade im Vergleich zum Basar in Prishtina. Aber der ist auch in der verwinkelten Altstadt, der hier in Minsk ist halt auf einer weiten, offenen Fläche. Verkauft wird dann auch schon mal direkt vom LKW herunter, besonders der Fisch. Insbesondere dessen Verkauf mutet ein wenig archaisch an, wenn er bis zum Verkauf noch lebendig im Bassin schwimmt. Aber eigentlich geht’s ja nicht frischer und mal ehrlich, in Zeiten von Nordsee & Co. laufen wir doch Gefahr zu vergessen, wie ein Fisch überhaupt noch aussieht.

Minsk ist sicher keine Schönheit im ästhetischen Sinne, langweilig wird’s dennoch nicht so schnell. Ein wenig zur Geschichte Minsks, was auch die Stadtplanung ein wenig erhellen mag.

Von der Stadt ist 1945 so gut wie nichts mehr übrig, Hitlers Armeen hinterlassen verbrannte Erde. Und 100.000 Tote, fast die Hälfte der Einwohner. Bis heute prägt der Zweite Weltkrieg die Stadt. Der Kampf um Minsk dauert lediglich drei Tage, dann ist der Widerstand gebrochen und die Wehrmacht überrollt die Stadt. Viel zu verteidigen ist allerdings nicht mehr in den Tagen außer der eigenen Würde, haben doch wiederholte Bombardements der deutschen Luftwaffe die Stadt bereits weitestgehend zerstört.

Die Stadt wird dann eben in dem Stil aufgebaut, in dem man sie nun erleben kann. Wer gut zu Fuß ist, kann hier ordentlich Meter machen. Natürlich ist diese Architektur dazu bestimmt, zu beeindrucken, den Menschen klein zu machen, zu entindividualisieren, ihm das Gefühl zu geben, er sei jederzeit zu überwachen und zu identifizieren. Ein gängiges Prinzip in Diktaturen oder autokratischen Systemen.

Befreit wird die Stadt am 3. Juli 1944. Seit 1974 trägt Minsk offiziell den Titel „Heldenstadt“. Es gehört zum Selbstverständnis der Stadt, der Schriftzug prangt groß am Prospekt des Sieges.

Für uns mag es ein bissel eigenartig aussehen, dass es in den Souvenirläden ganz selbstverständlich Pins mit Ehrenauszeichnungen oder Panzern gibt, Feuerzeuge in Handgranatenoptik oder Patronenhülsen als Schlüsselanhänger oder eine Büste von Marschall Schukow, hier ist es Teil des Selbstverständnisses. Was allerdings eben auch gespeist wird von dieser extrem militärisch geprägten jüngsten Geschichte und dem Selbstbewusstsein, dass gerade hier die Partisanen extrem aktiv waren, von ca. 1.000 Partisanengruppen ist die Rede, mehr als anderswo in Europa.

Beides, der Kampf der Roten Armee und der Partisanenkampf haben eine zentrale Bedeutung in der sowjetischen Erinnerungspolitik. Sie werden in meist heroischen, monumentalen Denkmälern thematisiert. Das jüdische Leid hingegen wird über die Jahre vergleichsweise zurückhaltend thematisiert, Ausnahmen Chatyn und das Minsker Ghetto, genauer die Erschießungsgrube am ehemaligen Ghetto, wo die Gestaltung jeweils eher schlicht ist.

Monumentaler dagegen das „Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“. Bereits im September 1944, wenige Monate nach der Befreiung von Minsk wird das Museum im Zentrum der damals völlig verwüsteten Stadt eröffnet. 2010 der Beschluss zum Aus- und Neubau beim 1985 errichteten Obelisken für die „Heldenstadt Minsk“. Ausgestellt ist zahlreiches Kriegsgerät, verschiedene Punkte dokumentieren russische Geschichtsschreibung, die schon immer den heroischen Kampf der Roten Armee im Mittelpunkt gesehen hat. Geschichtsklitterung? Einerseits, denn die Zivilbevölkerung oder die Ermordung der Juden kommen nur am Rande vor. Andererseits trägt die Rote Armee aber auch die Hauptlast des Zweiten Weltkrieges, sorgt mit der Befreiung von Weißrussland für eine der entscheidenden Wendungen im Krieg.

Weißrussland ist einer der blutigsten Schauplätze des Zweiten Weltkrieges. Im Juni 1941 greift die Wehrmacht die Sowjetunion an. In Folge soll gerade Weißrussland ausgeplündert werden, millionenfacher Tod wird nicht nur billigend in Kauf genommen, nein, er ist erklärtes Ziel der Nazis.

Der Partisanenwiderstand wird mit brutalem Terror erwidert. Über 5.000 Städte und Dörfer werden vollständig oder erheblich zerstört, oft alle Einwohner ermordet. Oft werden die Einwohner in Scheunen zusammengetrieben und diese dann angezündet. Die Menschen verbrennen bei lebendigem Leibe. Männer. Frauen. Kinder.

Chatyn oder Oradour in Frankreich stehen noch heute für diese Vernichtungspolitik.

85% der Industriebetriebe sind zerstört, die Industrie kommt praktisch zum Erliegen, die Saatfläche ist zu 40 % zerstört, der Viehbestand zu 80 %. Mehr als 2.300.000 tote Weißrussen sind es am Ende, über 1.500.000 Zivilisten, über 800.000 Soldaten und Kriegsgefangene. 25 % der Gesamtbevölkerung. 230.000 Juden sind darunter, 85.000 allein aus Minsk.

Drei Jahre nach dem deutschen Einmarsch dann die Kriegswende. Im Sommer 1944 erobert die Rote Armee das Gebiet zurück, fügt der Wehrmacht schwere Verluste zu und leitet so die Kapitulation ein Jahr später ein. Auf dem Rückzug hinterlassen die Nazis in Minsk und Weißrussland ein zweites Mal verbrannte Erde.

Die Kriegsführung gerade hier folgte dem perversen Generalplan „Ost“, der die Eroberung von „Lebensraum für das deutsche Volk“ vorsah. Hitler und seine Vasallen sahen ja 1.000 Jahre vor sich und damit den Bedarf an Raum im Osten (Weißrussland), Nahrungsressourcen (Kornkammer Ukraine) und Rohstoffen (Öl beim Kaspischen Meer).

Der Plan war nichts anderes als die Ausrottung der ansässigen Bevölkerung in den Gebieten. Die perverse Idee war, in den Großstädten Weißrusslands Siedlungen für das deutsche Volk, die sog. arische Rasse, zu schaffen. Jedem Deutschen sollten dann mind. zwei Sklaven zugeordnet werden, es gab also nur die Vorhaben Erschießen oder Versklaven. Dazu waren die Soldaten angehalten, das war ihr Auftrag.

Zum Glück ist es anders gekommen, das darf man sich hier auch mal ganz bewusst machen. Gerade in Minsk ergibt sich dieser Blick in die Geschichte automatisch – jedenfalls für mich. Man kann sich auch über breite Straßen und den Monumentalismus mokieren – wird der Stadt aber nicht gerecht.

Bevor der Krieg vorbei ist, werden 6.000.000 Juden in Vernichtungslagern ermordet, werden 3.000.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet. Insgesamt fordert der Zweite Weltkrieg 65.000.000 Menschenleben, mehr als die Hälfte davon Zivilisten. Das ist das Wesen des Nationalsozialismus – millionenfacher Mord, millionenfache Vertreibung, millionenfache Vernichtung.

Allein 27.000.000 Tote auf sowjetischer Seite, davon sind mehr als die Hälfte Zivilisten. Da sehe ich in dem Monumentalismus oder Pathos das geringste Problem.

Da wir beim Pathos sind: für mich ist eine Fahrt nach Brest zur Heldenfestung daher zwingend logisch. 3,5 Stunden fährt der Zug quer durchs Land, das sehr flach ist. Viele Wälder, viele Felder, viele Sümpfe, paar Siedlungen. 3,5 Stunden Zeit zum Lesen. 3,5 Stunden für die blutige, tragische, aber auch heldenhafte Geschichte Weißrusslands, Minsks und Brests.

Brest ist in Stein gehauenes Pathos. Überwältigend. Gewaltig. Heroisch. Monumental. Schon der Eingang mit dem fünf Meter hohen Betonklotz und dem riesigen Stern stimmt einen ein auf das was kommt. Laut tönen die die Nachrichten von 1941 aus dem Gestein:

Achtung, hier spricht Moskau, heute [am 22. Juni 1941] um vier Uhr morgens haben deutsche Streitkräfte ohne jegliche Kriegserklärung die Grenzen der Sowjetunion angegriffen. Der große Vaterländische Krieg des sowjetischen Volkes gegen die deutsch-faschistischen Eindringlinge hat begonnen.

Dann „Der Heilige Krieg“ – im Range einer Nationalhymne, hier mindestens. Dazu die Architektur. Das ist natürlich gewollt und hier wird schon im Eingang am Mythos Brest gearbeitet. Der riesige Stern macht klar, um wen es hier geht.

Noch heroischer, noch pathetischer noch monumentaler nimmt das Monument „Mut“ diese Formensprache auf. Hier wird der Mensch noch kleiner. Grimmige Entschlossenheit strahlt das Monument aus. Pathetisch, patriotisch, monumental, heroisch. Patriotisch kommt auch das Museum daher.

Ganz klar, hier geht es auch um den Kampf um Brest, noch mehr aber geht es darum, einen Mythos zu schaffen, einen Platz der Selbstvergewisserung, einen Platz, an dem sich die Nation gewissermaßen auf sich selbst einschwören kann, an dem der Roten Armee und ihrem Kampf im Großen Vaterländischen Krieg gehuldigt wird. Es geht um den Krieg und es weist deutlich darüber hinaus. Eine Gedenkstätte mit nationalem Anspruch, bis 1991 auf jeden Fall und letztlich heute auch noch, vielleicht sogar mehr denn je. Und letztlich haben Russland, die UdSSR und Weißrussland diesen Teil der Geschichte gemeinsam.

Und es ist auch nicht so, dass die Leute hier zwangsweise hingekarrt werden müssen. Reges Treiben hier, die Blumen und Kränze sind frisch, das Museum wird besucht.

Anachronistisch? Schauen wir doch noch einmal auf die Zahlen: 65.000.000 Tote im II. WK – davon 27.000.000 Tote in der Sowjetunion (14.000.000 Zivilisten, 13.000.000 Soldaten). Da kann man schnell mal pathetisch werden. Und ja, ich weiß, dass dem auch ein politisches Programm unterlegt ist.

Seit 1795 gehört Brest zum russischen Zarenreich. Zur Sicherung der Grenzen wird 1836 bis 1842 die Festung am Zusammenfluss von Bug und Muchwez gebaut.

Im Ersten Weltkrieg werden Festung und Stadt von den abziehenden Truppen niedergebrannt, die zweite Zerstörung binnen 100 Jahren. Am 3. März 1918 unterschreiben in den Teilen die Festung, die noch übrig sind, das Deutsche Reich und die Sowjetunion den Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Drei Jahre später – nach dem Russisch-Polnischen Krieg – gehört Brest zum neu gegründeten Polen. Im Rahmen des Polenfeldzuges erobern 1939 die deutschen Truppen die Festung, übergeben diese aber am 22. September der Roten Armee. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wird um ein geheimes Zusatzprotokoll ergänzt, darin wird die Übergabe von Stadt und Festung geregelt. In Weißrussland wird dies als „Wiedervereinigung des westlichen Belarus mit der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ gefeiert, eine etwas eigenwillige Interpretation, die die polnische Sichtweise unterschlägt.

Am 22. Juni 1941 beginnt das Deutsche Reich den Krieg gegen die Sowjetunion. Die Festung ist vom ersten Tag an direkt in die Kämpfe des Zweiten Weltkrieges verwickelt. Sieben Tage wehrt sich die Besatzung, am 29. Juni ergibt sie sich. Von 9.000 Soldaten, die zu Angriffsbeginn in der Festung sind, sterben 2.000, der Rest gerät in Gefangenschaft.

Die Arbeit am Mythos beginnt nach dem Krieg. Aus sieben Tagen Widerstand wird ein Monat, natürlich ein Kampf bis zur letzten Patrone und Gefangenschaft ist auch nicht wirklich Teil dieser Geschichte. So ist der Weg frei zum Ehrentitel Heldenfestung, der am 8. Mai 1965 verliehen wird. 1971 wird die Gedenkstätte eröffnet. 1997 dann verleiht der Weißrussische Präsident Lukaschenko der Gedenkstätte den Status eines „Zentrums der patriotischen Erziehung der Jugend“. Bücher, Theaterstücke, Filme, sogar eine Oper entstehen.

Für den Mythos werden auch mal die historischen Fakten zurechtgebogen. Man macht sich zunutze, dass es tatsächlich noch einzelne Widerstandsnester gegeben hat, allerdings Widerstand ohne strategische und militärische Bedeutung. Bedeutend aber für den Mythos – erst am 23. Juli wird mit Major Pjotr Gawrilow der letzte Verteidiger gefangen genommen. Ob er sich als Held und letzter heroischer Verteidiger der Festung gefühlt hat?

Bei der Frage nach der Kriegsgefangenschaft ist dann schon etwas mehr Energie notwendig, galt doch „Gefangengabe“, also das-sich-Ergeben in der Sowjetunion als sehr unheldisch, manche sprechen sogar von Verrat. Der Heldenstatus ließ sich also nur mit Verschweigen derer aufrechterhalten, die sich hier ergeben haben. Worin man allerdings recht findig war.

Zurück in Minsk geht’s dann zum Fußball ins nigelnagelneue Nationale Olympische Stadion „Dinamo“, das erst kürzlich neu eröffnet worden ist. Das Stadion wurde seit 2012 für gut 150 Mio Euro komplett umgebaut, die historische Fassade allerdings erhalten. Erst im Juni neueröffnet, im Juli das erste Spiel. 2019 sollen hier die Europaspiele ausgetragen werden.

Heute trägt Dinamo Minsk sein Heimspiel gegen FC Smolevichi hier aus. Die Zuschauerzahl ist so dermaßen gering, dass sie gar nicht erst durchgesagt wird. Der Umbau ist gelungen, die Fassade, der Bogen vor dem Haupteingang erhalten. Geschwungene Dachkonstruktion.

Sozusagen ein würdiger Rahmen für die Komplettierung Europas. War nie mein Ziel, hat sich dann aber doch ereignet. Im Frühjahr in Armenien habe ich mal auf die Landkarte geschaut, wollte mal sehen, wo man noch so hinkann. Und dann sehe ich in Europa kaum noch weiße Flecken auf meiner Karte. Und nun sind alle 55 UEFA-Verbände bereist. Sozusagen mein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Zum 50. kann man das mal machen.

Corona-Update 2020: Kürzlich beim Aufräumen entdecke ich noch folgende Postkarte aus Minsk von Patrick. Fein.

 

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