RIGA – August : 2009

Albert+Elizabetes iela 15

Letztes Jahr Helsinki und anschließend Tallinn, dieses Jahr Riga, nächstes Jahr Vilnius, um die BaltikumMetropolen zu komplettieren? Schon vorstellbar, wobei das jeweils nicht mein Plan war und weiter nicht sein wird. Riga war einfach mal fällig und mit dem Billigflieger von der Grünen Insel wird auch schnell mein Partner für den Transport auserkoren.

Das Hostel in der Innenstadt ist nicht nur richtig preiswert, sondern auch gut, das fehlende Frühstück kann angesichts der Lage und der Angebote in der Innenstadt von Riga nach dem ersten Tag als komplett unerheblich eingestuft werden. Von Weeze geht es frühmorgens los. Zwei Stunden und eine Busfahrt vom Flughafen ins Zentrum (ca. 15 km) später warten die ersten, sehr altstadtnahen Eindrücke der Hauptstadt Lettlands auf mich, der größten Stadt der drei baltischen Staaten und Hauptstadt des seit 1991 unabhängigen Landes. Marginalien sind dies allerdings angesichts dessen, was diese Stadt zu bieten hat. Zunächst ist dies die Altstadt mit verwinkelten Gassen und Plätzen zum Schauen und Genießen. Schon hier wird deutlich, dass sie zwar einen mittelalterlichen Kern hat, aber ebenfalls deutlich geprägt ist durch den Jugendstil. Eine erste Überraschung, denn im alten Kern der Stadt habe ich überwiegend Mittelalter erwartet. Ich werde nicht das letzte Mal überrascht werden in dieser Stadt. Zurecht hat der Domplatz die Zentralstellung. Er ist Zentrum der Stadt und lockt durch Weite; hier kreuzen sich die Wege der Altstadt. Und er steht für den Beginn Rigas, der auf 1201 zurückgeht. Einmal mit der Gründung beschäftigt, legt Bischof Albert von Bremen zehn Jahre später den Grundstein für den Dom. Es ist von hohem Reiz, an den Jahrhunderten und Baustilen entlang zu laufen, denn Mittelalter mischt sich mit Hanse mischt sich mit Jugendstil. Jede Epoche hat Spuren in der nach wie vor bedeutenden Handelsstadt hinterlassen.

Dennoch, Riga steht für Jugendstil, und das wird schnell deutlich. Ein paar Impressionen aus der Altstadt machen dies klar. Es werden noch ganz andere Impressionen hinzukommen. Frühgotische Elemente mischen sich mit mythischen Masken, Symbolen und Figuren und immer wieder mit stilisierten Pflanzen bis hin zum wachsenden Lebensbaum als Symbol für immerwährende Erneuerung, für Alter und Jugend.

Wie immer, versuche ich mir aber zunächst einen Überblick über die Stadt zu verschaffen und da bietet sich die Petrikirche hervorragend an. Eines der Gebäude, welches ich oben noch gar nicht erwähnt habe, aber nicht weniger zentral ist und den geneigten Touristen v.a. dadurch bestechen kann, dass der Turm recht bequem per Fahrstuhl ‚erklommen’ werden kann. Der Ausblick wäre allerdings auch ein mehr als dreihundertstufiges Treppensteigen wert. Die Hängebrücke darf als Bild natürlich nicht fehlen, nicht weniger interessant aber ist der Blick gegen die Fließrichtung der Daugava. Sehr schnell fällt hier der Zentralmarkt ins Auge, entstanden aus den ehemaligen Zeppelinhallen, ein Überbleibsel der Deutschen aus dem ersten Weltkrieg. Meines Wissens wurden sie nur gut zwei Jahre militärisch genutzt. Danach kurzzeitiger Leerstand, Umbau und Einweihung als Zentralmarkt 1930. Nun sind sie, verbunden mit dem schier unendlichen Areal der ehemaligen Speicherstadt (so zumindest interpretiere ich die Gebäude und Straßenschilder), einer der größten Märkte in Europa. Er macht Spaß, v.a. weil hier nicht der übliche minderwertige Ramsch zu kaufen ist. Wenn ich es denn gewollt hätte, hätte ich mir interessante, einheimische und hochwertige Sachen zu fairen Preisen kaufen können. Und Aufdringlichkeit, welche ja sehr wohltuend eh nicht zu den Grundtugenden eines Letten gehört, ist hier ebenfalls nicht existent.

Bei soviel positiven Eindrücken fällt es fast nicht ins Gewicht, dass manche Straßenbelege außerhalb der Altstadt sagen wir mal zuweilen mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als gedacht. Immer mal wieder einen Blick auf den Weg zu werfen ist hier doppelt angebracht; geteert (nicht immer in bestem Zustand) wechselt sich ab mit gepflastert (Zustand oft ähnlich) und oftmals sind dazwischen die Straßenbahnen. Es ist eben keineswegs so, dass mit der Unabhängigkeit das goldene Zeitalter angebrochen ist und seitdem alles auf Hochglanz poliert wurde, was dem Charme der Stadt allerdings keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Abgesehen davon erwarte ich aber gerade in einer Altstadt die Aura des Alten mit Pflasterstein & Co.

Charme hat auch der kurze Ausflug nach Jurmala, dem 15 km entfernten Badestrand von Riga. Erst gibt es eine entspannte Fahrt auf der Daugava, immer entlang des sich verändernden Ufers. Zunächst das Panorama der Stadt, später Industrie- und Verladehafen und je weiter man aus der Stadt herauskommt, desto spärlicher wird der Uferstrich bewohnt. Sicher sind hin und wieder ein paar Holzhäuser mit eigenen Anlegestegen zu sehen, aber im wesentlichen ist an den Ufern Wald oder Schilf. Gemächlich entspannt erreicht man Jurmala mit den vielen Holzhäusern, die im Ursprung ja irgendwie alle auf die Jahrhundertwende zurückgehen. Um 1900, gerade mit den sich um diese Zeit rasant entwickelnden Städten, erlebten solche Städte wie Jurmala einen regelrechten Bau- und Bäderboom. Flucht vor der Großstadthektik, eine gleichzeitige Hinwendung zu solchen ruhigen und gesunden Gegenden und die Möglichkeit, den eigenen Reichtum unter anderen Gleichgesinnten zur Schau stellen zu können, trafen aufeinander und machten aus diesem kleinen Städtchen eine angesagte Vorstadt. Die Stadt und Besucher haben sich seitdem sicher leicht verändert, die Bademoden sind komplett andere, nur der Stand ist immer noch 38 km lang, feinkörnig und einfach schön. Ruhe und Entspannung vorprogrammiert, egal ob man sich nun ein Plätzchen am Strand sucht oder einfach den Strand entlangspaziert.

So entspannt kann ich mir auch die Leckerbissen der ersten Lettischen Liga anschauen, die schon arg anders ist, als so manche Liga. Zum ersten Spiel meiner Wahl kommen 150 Zuschauer. Es ist der 01.08.2009. Mit FK Daugava 90 Riga und SK Blāzma Rēzekne stehen sich der Neunte und der Siebte der Tabelle gegenüber und das heißt Letzter gegen Drittletzten. Man sieht es diesem Spiel an und man sieht auch, warum Daugava vor dem Spiel eine Minusdifferenz von 45 Toren auf dem Konto hat bei 18 Spielen. Blāzma stellt die schlechte Abwehr der Gastgeber konsequent bloß und gewinnt 3:0. Aber schon beim Betreten des Stadions wird unmissverständlich klar: hier und heute ist alles anders. Ein (!) Vertreter der Ordnungsmacht steht am Eingang und das auch eher als Zierde. Eintrittskarten und Programme gibt’s nicht und irgendeine Art von Verpflegung is auch nicht. Self-service ist gefragt: die, die sich kein SixPack mitgebracht haben, gehen eben in der Pause zum nächsten Laden und holen sich gerad ihre Pausenverpflegung und bringen sie dann mit ins Stadion. Ein Stadion mit entzückender Baufälligkeit übrigens, das Latvijas Universitates Stadions. Überall bricht sich Grün die Bahn, das Mauerwerk ruft an verschiedenen Stellen dringend nach Pflege und die Haupttribüne ist gänzlich unzugänglich für Zuschauer. In Dtl. würde hier nicht mal in der fünften Liga ein Spiel angepfiffen, da bin ich mir sicher. Dennoch finde ich es hier einfach hochspannend, spannender als zwei Tage später.

Da steht FC Skonto Rīga – FC Daugava Daugavpils im Skonto Stadiona an, beachtliche 300 Zuschauer würde ich mal schätzen. Für Skonto geht es immer noch um die Meisterschaft. Aber es ist hier definitiv anders mit dem Fußball, er interessiert hier nicht wirklich jemanden. In den Zeitungen steht eher etwas über den russischen Fußball als über den lettischen. Vom Stadion wird daher auch nur eine Tribünenseite geöffnet, welche wohltuend im Schatten liegt. Als besonders herausragend wird mir das Stadion nicht in Erinnerung bleiben, bemerkenswert ist immerhin die nicht ganz alltägliche Konstruktion direkt an der Olympiska-Skonto-Halle. Der auf einer Seite fehlende Hintertorausbau lässt sich für Länderspiele o.ä. wohl recht schnell mit Stahlrohrtribünen beseitigen, zumindest haben etliche von den entsprechenden Teilen in den Katakomben des Stadions gelagert. Engagierten, aber schlechten Fußball habe ich bei Daugava gesehen, heute ist er genauso engagiert, aber noch schlechter. Wenn innerhalb von einer halben Stunde fast alle Klassiker des schlechten Fußballs abgerufen werden, dann wird es allerdings auch schon wieder komisch. Wie allerdings konnte sich Lettland für die EM 2004 qualifizieren? Fand ich es 2004 schon mehr als überraschend, so würde ich es ab heute als ein Wunder bezeichnen. Das peinliche 0:0 unserer Kicker gegen Lettland bei der Endrunde erscheint noch ein wenig peinlicher als ohnehin schon.

Aber wenn schon kein guter Fußball, dann gutes Bier und gutes Essen, wovon Riga jede Menge zu bieten hat. Klar geht internationale Küche mit Pizza & Co. immer, mich zieht’s aber eher zur einheimischen Küche, die meist deftig und meist fleischbetont ist und die jahrzehntelangen russischen Einflüsse nicht leugnen kann. Lecker.

Bemerkenswert: anstatt erwartbarer Festungsmauern aus dem Mittelalter gibt es rund um die Altstadt einen abwechslungsreichen Ring aus Parkanlagen und damit ist der Übergang von der Altstadt zu den wesentlich Jugendstil-geprägten Wohnbezirken einladend offen. Höhepunkt dieser Stadt ist der Jugendstil. Vor allem deswegen bin ich ja nach Riga geflogen, nachdem ich schon in Helsinki und Prag den einen oder anderen Schatz entdecken konnte. Seit diesem Sommer wird dies nun aber definitiv und unumkehrbar von Riga in den Schatten gestellt. Es ist schlicht unglaublich, was hier an Jugendstilornamentik zu besichtigen, ja zu bewundern ist. Trotzdem diese Epoche ja recht kurz war, gab es einige Spielarten, Stilrichtungen, Interpretationsmuster und diese alle sind in Riga zu sehen, wenn man Zeit mitbringt und gewillt ist zu Laufen und zu Schauen und zu Staunen. Die Zeit geht gar nicht so sehr für das Laufen drauf, sondern für die immer wieder angebrachten Pausen angesichts der überreich verzierten Jugenstilbauten. Es ist eine wirklich unglaubliche Ornamentvielfalt, soviel Jugendstil bringt alle ästhetischen Sinne zum Überkochen. Die klassische Fassade einiger Häuser löst sich beim Blick auf diese teilweise komplett auf, was im Sinne des jeweiligen Architekten war. Auch bei Nachbetrachtung der Bilder fallen mir immer wieder Details auf, die ich vor Ort nicht sah, was weniger an meiner Kurzsichtigkeit, sondern mehr an der Detailfülle, an dieser Üppigkeit liegt. Natürlich sind Alberta iela und Elizabetes iela herausragend, weil gerade da einige Häuser stehen, deren Detailreichtum nicht zu überbieten ist. Als erster Architekt, der untrennbar mit diesen Straßen verbunden ist, steht Michail Eisenstein, Vater des Filmregisseurs Sergej Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin, Alexander Newski). Die von ihm entworfenen Gebäude sind überreich an dekorativen Phantasiefiguren mit teils mythologischen Hintergründen oder an schmückenden Elementen. Architekten nach ihm knüpften an diese dekorativen Entwürfe an, variierten und veränderten sie. In diesen Fällen konnte es dann ein wenig schlichter und weniger mythisch werden.

Ab 1905 kommt mit der Nationalromantik eine weitere starke Strömung hinzu. Spätestens nach der niedergeschlagenen lettischen Revolution gegen Zar Nikolai II. zeigt sich erwachendes Nationalgefühl auch in der Jugendstilarchitektur, die sich nun eher mit Ornamenten aus der Volkskunst und insgesamt wuchtiger, gröber und nordisch-inspirierter zeigt.

Ohne Zweifel: Riga hat Klasse und überzeugt gerade mit den vielen Epochen, durch die sich wie in einem großen Freilichtmuseum schlendern lässt. Eine anziehende Stadt mit romantisch-würdiger Ästhetik.

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