Le Havre und die Normandie – April : 2022

Camembert und Cidre, Crossiant und Baguette und jede Menge Geschichte(n)

So soll der Urlaub im Frühjahr 22 sein. In Bielefeld hole ich Otfried ab und ab geht es nach Le Havre, die Zwischenstation bei Lüttich ist zu vernachlässigen, diente ja letztlich nur dem Transfer. Wichtig war, Samstag zeitig in Le Havre anzukommen und noch Zeit zu haben für Einkauf und Fußball. Le Havre AC spielt gegen Dunkerque USL im Stade Océane. Wir haben uns mit der Wahl unseres Starttermins so viel Zeit gelassen, da wäre es nur fair, dass dies jetzt hier zur Geltung kommt. Is aber nich. Kaum Zuschauer (4.332), noch schlimmer aber ist es einfach schlechter Fußball. Le Havre gewinnt durch eine Energieeinzelleistung kurz vor Schluss 2:1, wir fühlen uns irgendwie erlöst. Schon klar, der HAC hat es im Mittelfeld der Ligue 2 nicht leicht, aber warum muss er es uns heute so schwer machen?

Tags drauf steht Le Havre auf dem Plan. Unsere Wohnung ist direkt am Hafen, das bunte Catène de Container in Sichtweite. Seit 2017, zum 500sten Hafengeburtstag, steht die farbenfrohe Kettenskulptur hier.

Sonne, Wasser, Frühling, ein hervorragender Start. Le Havre ist spannend, gerade die Unterstadt besticht durch klare Kanten. Von den Nazis binnen kürzester Zeit zu einem Rüstungszentrum ausgebaut, wird die Unterstadt 1944 nahezu vollständig zerbombt. Und 1945-1954 wieder aufgebaut. Auguste Perret hat mit einem Team von 60 Architekten ein Ensemble geschaffen mit klaren langen Achsen, vielen Kolonnaden, langen Balkonfluchten, klarer, einfacher Ornamentik.

Perrets Ansatz war die Verwendung der riesigen Schuttberge. Letztlich die Umwidmung der Schuttberge, die zermahlen, nach Farben und Strukturen getrennt und mit Elementen wie Glassplittern oder Kieselsteinen vermischt wurden. So entstanden neue helle Oberflächen. Vor allem unterschiedliche, was das neue Stadtbild prägt, was es spannend macht, was Le Havre zu einer schwer interessanten Stadt macht.

Die Arkaden prägen das Stadtbild, der Beton lässt, je nach Licht, Raum für farbliche Stimmungen, die Kirche St. Josef zieht die Blicke und Schritte magisch an so markant wie sie die Silouhette dominiert. Eine quadratische Grundfläche, darauf das nach innen offene Achteck mit einer offenen Wendeltreppe, die wir uns indes ersparen, diese 107 Meter sind nur mit absoluter Schwindelfreiheit zu ertragen. 12.768 Glasstücke sind im Turm verbaut, was der Kirche eine faszinierende Farbigkeit verleiht. Grandioses Teil.

Die Ecke um Le Volcan, manche sagen auch Joghurtbecher, Kulturzentrum und Bibliothek, hingegen überzeugt mich nicht restlos. Zwar gibt der Blick rüber vom Bassin du Commerce ein hübsches Fotomotiv ab, das wars dann aber schon fast, der Platz selber wirkt eher unbelebt und steril. Auch wenn ich i-wo lese, dass die Weichheit der Kurven mit der Perret-Orthogonalität im Dialog stehe. Nun ja.

Zum frühen Nachmittag wechseln wir in die Oberstadt. Otfried hat noch ein Spiel des Le Havre AC ausgegraben, zwar nur die B-Jugend, die aber in einem Traum von einem Stadion. Das Stade de la Cavée Verte war von 1918 bis 1971 Heimat für die Ligaspiele, bis an anderer Stelle neu gebaut worden ist.

Cavée Verte ist mitten in der Stadt gelegen. Das muntere Spiel gegen Rouen (5:1) wird garniert mit Geschichten von Otfried, schließlich ist sein Papa regelmäßig zu genau diesem Stadion gepilgert, da gibt es einiges zu erzählen aus der Heimat. Ein äußerst kurzweiliger Nachmittag.

Abends gehts dann nochmal in die Oberstadt und an den Strand von Le Havre, nachts zeigt sich die Stadt in einem gänzlich anderen Lichte, was der Dunkelheit und der Illuminierung geschuldet ist, schon klar, es betont aber noch einmal andere Aspekte, setzt andere Schwerpunkte. Ungebrochen faszinierend.

So sind wir denn bereit für einen Ausflug zu den Kreidefelsen von Étretat. Grandioses Frühlingswetter garantiert eine entspannte kleine Wanderung hoch zu den Klippen, die fotogen in der Sonne liegen. Ob nun wandern oder entspannt am Strand in der Sonne sitzen, es ist ein faszinierendes Fleckchen Erde.

Das Küstenstädtchen Étratat ist quasi eingerahmt von diesen bizarr geformten Kreidefelsen. Mit den ausgehöhlten Klippen und Felsnadeln dürfte es als Teil der Alabasterküste eine der zentralen Sehenswürdigkeiten der Normandie sein. Claude Monet hat der Landschaft einige impressionistische Denkmäler gesetzt.

Und eines sehe ich dann ein paar Wochen später im Musee d Orsay tatsächlich im Original, schon sehr cool.

Anschließend noch ein Stündchen weiter ist die Abbaye de Saint-Wandrille, recht entäuschend, aber so bleibt mehr Zeit für die Abbaye de Jumièges. Ein weiteres, ein anderes, ein absolutes Juwel. Nachdem Étretat ja vor allem landschaftlich zu überzeugen wusste, sind es hier die Überreste der einst mächtigen Abtei. Die ja immer noch mächtig ist, nur dass es nun eine sensationelle Ruine ist, die von vergangenen Zeiten kündet und von Würde und von Größe. Grandioses Teil, wir sind wohl gut zwei Stunden hier und betrachten die Abtei aus allen möglichen Blickwinkeln. Definitiv eine der Top-Adressen in der Normandie.

Die Geschichte ist unglaublich wechselvoll, um 650 gegründet, geplündert, wiederaufgebaut, erneut geplündert usw., das lässt sich ja alles nachlesen.

Wir fahren weiter Richtung Carentan, zur nächsten Unterkunft, bissel weiter im Westen und damit näher am Le Mont-Saint-Michel. Es geht über Bayeux, bekannt durch den gleichnamigen Teppich. Natürlich schauen wir uns das spannende Teil an.

Der gestickte Teppich ist in der zweiten Hälfte des 11. Jhdt. entstanden. Auf 68 Metern wird in 58 Einzelszenen die Eroberung Englands durch Normannenherzog Wilhelm der Eroberer dargestellt.

Er gilt als eines der bemerkenswertesten Bildmonumente des Hochmittelalters. Die Darstellung geht ja weit über die reine Darstellung der Eroberung hinaus und stellt Einzelheiten zu Schiffsbau und Seewesen, Tracht und Schmuck, Kampfweise und Ausrüstung dar. Dazu findet sich die erste bildliche Darstellung des Kometen Halley, der zu der Zeit den sonnennächsten Punkt erreichte.

Insgesamt sind 623 Menschen, 202 Pferde, 55 Hunde, 505 andere Tiere, 27 Gebäude, 41 Schiffe und Boote sowie 49 Bäume eingestickt.

Konkret geht es um Ereignisse, die nach Ansicht von verschiedenen Forschern das Ende der Wikingerzeit markieren. Das ist sehr diskutabel, ich sehe es deutlich später, hier aber nicht ganz so wichtig. Im September 1066 fällt König Harald III. von Norwegen, ein Wikinger, in Nordengland ein mit dem Anspruch auf den englischen Thron. Am 25. September wird er mit seinem Heer vernichtend geschlagen. In der Schlacht von Stamford Bridge schlägt das Heer von Harald Godwinson die Norweger zurück.

Wenig später landet der normannische Herzog Wilhelm, ein weiterer Wikinger, mindestens ein Wikinger-Nachfahre, an der englischen Südküste. Die Entscheidungsschlacht zwischen dem normannischen und dem angelsächsischen Heer steht an, die Schlacht bei Hastings am 14. Oktober. Mit dem Tod Harald Godwinsons auf dem Schlachtfeld ist die Schlacht entschieden, die angelsächsischen Truppen fliehen. Weihnachten 1066 wird Normannenherzog Wilhelm zum englischen König gekrönt.

Ein handgestickter Teppich als Mittelalter-Comicstrip sozusagen, im Mittelalter einmal jährlich ausgestellt, was vor allem für die MA-Bevölkerung gut und hilfreich ist, die Alphabetisierungsrate ist weit unter 20 %. Nur wenige können lesen und damit auch diese Geschichte der Vorfahren nicht. Bilder hingegen gehen und so tradiert sich die Geschichte um Hastings auch auf diesem Wege.

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zum Namen Normandie, der – unschwer zu erahnen – von den Nordmännern kommt, so wurden die Wikinger auch genannt. Ab ca. 800 mischen sie von Dänemark und Norwegen aus Europa auf.

Rollo – ja den gab‘s wirklich – hat sich um 900 in der Seinegegend festgesetzt, so einfach lassen sich die Franken indes nicht erobern, man kommt nicht weiter. Verhandlungen sollen die Pattsituation auflösen und sie tun es.

911 schließen die Wikinger um Rollo und die Franken einen Vertrag, der als die Geburtsstunde der Normandie gelten kann. Rollo verpflichtet sich, den König anzuerkennen, die Franken bezeichnen das Gebiet als Land der Nordmänner – Normandie. Das stärkste Zeichen allerdings ist, dass sich Rollo taufen lässt und die heidnischen Bräuche hinter sich lässt – alles, um seinem jungen Herzogtum die christliche Anerkennung zu verschaffen. Und gut 100 Jahre später fängt der normannische Herzog Wilhelm nach der Eroberung Englands den normannischen Gedanken nach England zu tragen. Wir schreiben das Jahr 1066 und die Zeit der Wikinger-Eroberungen mag zwar i-wie vorbei sein, die Zeit der Nordmänner ist es indes noch lange nicht.

Das Musée Bateille de Normandie hat dann mit dem Mittelalter so gar nix mehr zu tun, es dokumentiert den D-Day in allen seinen Facetten. Geradezu unfassbar detailliert, was sicherlich angemessen ist, was aber in der Detailtiefe schlicht zu tief ist. So unsere Empfindung. Abends, nachdem wir uns in unserer coolen Unterkunft eingerichtet haben und zum Utah Beach fahren, fangen die Fakten an, auf eine gewisse bedrückende Art zu leben. Dieser unendliche flache Strand, die Dünen, das zu einem Mahnmal verarbeitete Landungsboot. Das heutige Wetter passt irgendwie dazu.

Also dann mal neuerlich den Blick auf die Wettervorhersage gerichtet. Die Prognosen für Le Mont-Saint-Michel sind ganz hervorragend, wir stehen etwas früher auf, um recht zeitig da zu sein, der Plan gelingt, genauso wie der Plan sich als richtig herausstellt, sich gleich an der Info am Parkplatz Tickets für die Abtei zu kaufen. Aber zunächst ist bissel laufen angesagt, die Brücke ist neu gebaut 2013 und sie soll den Besucher natürlich noch sicherer rüber zum Saint-Michel geleiten. Besserer Schutz vor den Gezeiten wird es genannt, verstetigter Touristenstrom muss es wohl heißen. Aber okay, wir genießen ja gerade genau den Umstand, dass wir uns um Gezeiten am Saint-Michel genau gar nicht kümmern müssen, was früheren wirklichen Pilgern eben nicht geben war, weil sie sich ohne Brücke und mit weniger versandeter Bucht ernsthaft mit den Gezeiten auseinandersetzen mussten.

Aber ich merke gerade, dass ich mit aller Macht versuche, mich ja nicht gefangen nehmen zu lassen von dem Mythos Le Mont-Saint-Michel, was nicht gelingen kann und irgendwie auch albern ist. Mont-Saint-Michel ist schlichtweg geil, schick und irgendwie überwältigend. Steht weithin sichtbar in der Bucht und ist ein überwältigendes Fotomotiv. Eigentlich egal, von wo man schaut, wie wir später im Städtchen Avranches feststellen werden.

Und es ist ein unfassbar spannend bebauter Berg, natürlich die Abtei, aber eben auch das Städtchen drumrum, was da im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist. Von dem Städtchen indes geben wir uns nicht allzu viel, vieles spielt sich auf der unteren Ebene ab und da sind vor allem Restaurants, Souvenirshops usw., wir orientieren uns umgehend die Treppen hoch zur Abtei, auch weil es sich sofort ausdünnt, wenn wir etwas höher steigen, sofort sind weniger Leute unterwegs und oben anstehen müssen wir dann keine Sekunde, alles richtig gemacht mit dem Vorab-Kauf und direktem Weg zur Abtei.

Der Weg durch diese ist verwinkelt und geht auf und ab, so wie sie eben im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist. Le Mont-Saint-Michel ist im Verlaufe von Jahrhunderten in dieser Form gewachsen, immer wieder wurde aus- und um- und neugebaut und auch mal umgewidmet, im Zusammenhang mit der Revolution wurde sogar ein Gefängnis draus.

Der aktuelle Stand ist der von ungefähr 1874, als der Berg zu einem nationalen Denkmal erklärt wurde und die Konservierung anfing und sukzessive fortgesetzt wurde. Im nationalen Range. Angefangen aber hat alles so um 708, so erzählt die Legende heute. Angeblich habe der Erzengel Michael dem Bischof von Avranches den Auftrag zum Bau einer Kirche auf der Felseninsel erteilt. Und irgendwann kam er diesem Auftrag auch nach, ein wenig gesträubt hat er sich, bis der Erzengel ein wenig nachdrücklicher wurde, ein Loch im Kopf ist das Ergebnis. Und später kamen die Wikinger und danach die Bretonen und dann die Engländer. Und immer wieder Pilger. Heute gibt es sogar wieder ein paar Ordensleute, die hier leben.

Unfassbar reiche Geschichte. Immer wieder auch der Blick in die Gegend während unserer Tour durch die Abtei, der Blick vor allem auf die Gezeitengegend. Ich bin wirklich schwer angetan von allem hier, dem Berg, der Abtei, der Geschichte, den Perspektiven.

Nach unserem Rundgang, als wir uns langsam wieder nach unten bewegen, sehen wir noch einmal, wie richtig wir mit unseren Entscheidungen gelegen haben. Die Schlange, die Einlass in die Abtei erbittet, ist mittlerweile recht lang geworden, vor allem ist es genau die Schlange, die erst hier oben die Tickets kaufen will. Glücklich der, der schon ein Ticket hat und fix an der Schlange vorbei gehen kann.

Unten kommen wir auf der Restaurant-Souvenir-Meile an, die nun komplett geflutet ist mit Touristen, die offensichtlich gar nicht vorhaben, sich gen Abtei aufzumachen und sich lieber durch die Gassen schieben. Durch die Gassen des Städtchens, das zu Füßen der Abtei im Laufe der Zeit entstanden ist. Pittoresk ohne Zweifel, real aber ein Graus mit zu vielen Touristen, wir verlassen den Ort recht fix, haben ihn intensiv kennen- und schätzen gelernt. Was mag hier im Sommer nur abgehen, ich kann es mir vorstellen, aber ich will es mir eigentlich gar nicht vorstellen. 3 Mio Besucher zählt Mont Saint Michel jährlich.

Avranches verspricht eine andere, eine zusätzliche Perspektive auf Saint-Michel und die bekommen wir in der Tat. In der Kathedrale Notre Dame ist als Reliquie der Schädel des Gründers von Mont Saint Michel, das beeindruckt schon und so schauen wir da mal vorbei. Tatsächlich hat er ein veritables Loch im Kopfe, Erzengel Michael muss da schon ein wenig heftiger angeklopft haben bei der Erinnerung an den eingeforderten Bau von Saint-Michel.

Anschließend wenden wir uns dem Botanischen Garten zu, der einen prächtigen Blick zu Saint-Michel verspricht und er verspricht nicht zu viel. Sogar ein Fluss mäandert sich ins Bild.

Romantische, schöne Bilder gestern, heute mit Omaha Beach das genaue Gegenteil? Denken wir vielleicht im Anfang ein bisschen, aber am Ende ist es doch ganz anders. Wir starten am Mahnmal Les Braves und laufen am Beach. Und laufen. Ein langer, ein schöner Strand. Ja, wir wissen, was hier los war, aber zunächst ist es hier über Kilometer einfach ein schöner, ein langer Strand. Wir laufen bei bestem Wetter, bei fast unwirklichem Licht. Ab und an fragen wir uns, wie das Szenario gewesen sein mag: ein kilometerlanger Strand, die anlandenden Alliierten, die mit Bunkern in die Hügel hineingetriebenen Linien der Nazis und dann der D-Day, der Tag an dem sich auch an der Westfront der Krieg drehte. Es muss ein ohrenbetäubender Lärm gewesen sein, es muss die Hölle gewesen sein. Im Anfang der Kämpfe hat einer von zehn Soldaten überlebt.

Einer von Zehn.

Wir sind inzwischen in der Ecke des Cimetière Américain de Normandie angekommen und da sind dann auch paar Bunker und Überreste von den Bunkeranlagen zu sehen und die schauen wir uns auch an. Und nebendran grasen die Schafe. Und was soll ich sagen, mir gibt ein Bild von grasenden Schafen hier an der Stelle dann deutlich mehr als ein Bild von Bunkern, zumal es ja auch ein bissel zeigt, dass man diese Gegend zwar als genau diese Gegend achtet die es ist, aber nicht konserviert.

Unfassbar wichtig finde ich aber das Gedenken und vor allem, dass es wirklich einen konkreten Ort hat mit dem Soldatenfriedhof. Diese unfassbare Zahl an weißen Kreuzen, mich machen sie ruhig und ehrfürchtig. Wie viele sind hier begraben, die quasi in der ersten Reihe waren und wussten, dass sie sterben werden, dass sie sterben werden, um den nachfolgenden Kameraden den Weg zu ebnen, den Weg zu ebnen, an Omaha Beach anzulanden und die Jagd auf die Nazis eröffnen zu können. Anonym in der Masse, ohne Unterschied in der Masse mit einem weißen, streng ausgerichteten Kreuz weil das nur in der Gruppe zu schaffen war und doch jeweils individualisiert durch die Kreuzinschrift. Dieser Ort bewegt mich schwer, dieser Ort bewegt uns schwer, das Grauen, welches die Nazis über Europa gebracht haben erhält einen Ort, ein Bild, eine Geschichte.

Der Rückweg am Beach ist weiter bei fast unwirklichem Licht, barfuß durch den Sand und durchs Wasser, es könnte uns schlechter gehen.

In der Nähe hatten wir noch das Château Fort de Pirou entdeckt. Eine kleine gepflegte Wasserburg erwartet uns, eine kleine Perle. Im 12. Jahrhundert auf einer künstlichen Insel erbaut, wird das Chateau im 17./18. Jahrhundert zum Schloss umgestaltet und restauriert, wird dann aber bis ins 20. Jahrhundert als Bauernhof genutzt. Dann aber als Burg sozusagen wiederentdeckt. Ein gepflegtes Kleinod, eine nette Burg mit überraschend vielen Einblicken, mit engen Gängen, niedrigen Türen, Burggraben und verwunschenem kleinen Park drumrum. Und mit scheuen Bibern und süßen kleinen Entenkindern.

Highlight ist der Teppich von Pirou im Gerichtssaal. Es ist genau die Sticktechnik des Bayeux-Teppichs, er sieht aus wie der Bayeux-Teppich. Faszinierend. Es ist keine einfache Kopie, sondern eine eigene Geschichte, die erzählt wird. Hier ist es eine Geschichte der Wikinger, von Ankunft der Wikinger auf der Halbinsel bis zur Eroberung Siziliens. Thérèse Ozenne hat sich Jahre vertraut gemacht mit den Bayeux-Teppichen. Mit der Sticktechnik, mit dem Ausdruck. Um dann von 1976 bis 1992 den Pirou-Teppich zu sticken. Sensationell, abgefahren, irre.

Damit nicht genug gibt es noch eine Sage zu der Burg: um sich vor Eroberungen in Sicherheit zu bringen verwandelten sich die Burgbewohner in Gänse und flogen kurzerhand davon. Allerdings legten die Belagerer ein Feuer in der leeren Burg. Schlimm genug so schon verbrannte dabei auch noch das Zauberbuch. Aber kein Zauberbuch – keine Umkehr des Gänsezaubers. So fristen die Burgbewohner seither ihre Tage – gefangen im Körper einer Gans. Jedes Jahr im Frühjahr kehren sie zurück mit neuer Hoffnung. Und jedes Jahr im Herbst fliegen sie zurück in den Süden.

Pirou ist der würdige Abschluss der drei Tage hier in der Ecke Carentan. Abends nochmal zum kleinen Hafen runter, wo die Dreknor liegt. Natürlich können wir mit der nicht los, auch wenn ich das schon sehr cool gefunden hätte. Aber das Wikingerschiff ist für Events vorgesehen.

2008 nach langem Vorlauf erblickte das Langschiff das Licht der Welt, am 14. Juni um genau zu sein und der oberste Sponsor ist kein Geringerer als der Botschafter des Königreichs Norwegen. Immerhin gilt die Dreknor als aktuell einzige historische Nachbildung des Gogstad-Schiffes, dem Original aus dem Osloer Wikingermuseum.

Die wirklich coole Unterkunft in Carentan hätten wir sicher auch noch länger haben wollen, aber wir müssen ja auch an das Urlaubsende denken, leider. Also geht es weiter, nächste Station Château Gaillard. Die Burg von Richard Löwenherz.

Ende des 12. Jahrhunderts sorgte Löwenherz, König von England und Herzog der Normandie, dafür, dass eine der bedeutendsten Burganlagen des Mittelalters entstand, strikt nach dem Vorbild von Kreuzfahrerburgen. Äußerst modern war sie mit fünftürmiger Vorburg und dem Turmring der Hauptburg, der den Wehr- oder Wohnturm gleichermaßen umschloss wie beschützte. Modern und fotogen, denn schön gelegen ist die Ruine, schön fotogen am Seine-Bogen mit den Kreidefelsen im Hintergrund. Im Mittelalter war das eher Garant für den Fortbestand der Burg in bester strategischer Lage. Der Fluß ließ sich in Nullkommanix abriegeln und für die Versorgung waren diverse Keller in den Kalkfelsen getrieben.

Da ist dann der anschließende Umweg zur Abbaye Mortemer irgendwie zu ertragen, obwohl er schon mächtig nervt. Aber was will man machen, wenn eine der Brücken über die Seine einen neuen Belag erhält.

Die Abbaye Mortemer ist wunderschön gelegen und ganz anders als Jumiges. Nicht ganz so mächtig, nicht ganz so eindrucksvoll, dennoch schön, wirklich schön. 1138 begann der Bau, dann wechselhafte Geschichte, 1790 bewohnen das Kloster noch fünf Mönche. 1791 während der Französischen Revolution aufgelöst und anschließender Verfall. Seit 1926 Einstufung als monument historique und damit in einem besonderen Maße erhaltenswert. Und das ist gut so.

Über Rouen ist der näxte Abschnitt nach Lille. Eigentlich ganz anders geplant, Brügge sollte es sein, aber wenn der Vermieter der Unterkunft sich nicht nachvollziehbar verhält, dann soll es wohl anders sein. Wir sind in Lille angekommen und steuern als erstes die Villa Cavrois an.

Eine dieser spontanen, überraschenden, coolen Entdeckungen. Wird bei Lille auch nicht als erstes genannt, aber als wir uns mit unserem neuen Zwischenziel beschäftigen sehen wir dieses architektonische Prachtstück. Und fahren hin. Und sind angetan, irritiert, überwältigt, begeistert. Vielleicht sogar in dieser Reihenfolge. Eine Direktorenvilla, die dem streng linearen Architekturstil, den z.B. das Bauhaus einführt und in die Welt trägt, in einer Weise frönt, dass es schon fast störend wirkt, wenn hier Ornamente rund (niemals geschwungen) angelegt sind. Es ist die jeweilige Ausnahme und fügt sich immer in den Kontext. Immer. Klarste geometrische Formen.

Natürlich ist es erwartbar, wenn mit Robert Mallet-Stevens ein Verfechter der kubistischen Formensprache verpflichtet wird. Avantgardistische Architektur bis ins Detail, die selbstverständlich auch Einrichtung und Ausstattung erfasste. In dieser konsequenten Umsetzung ist die Villa Cavrois nicht nur Museum, sondern architektonisches Juwel.

Auftraggeber Baron Cavrois ist Eigentümer zweier Fabriken für Spinnereiwaren und Textilien sowie einer Färberei. 1929-1932 wird das Schmuckstück errichtet, bis 1939 wohnt die Familie dort, dann muss sie vor den Nazis flüchten. Später wohnt die Familie wieder hier, aber spätestens nach dem Tod seiner Gattin 1985 verfällt die Villa, Cavrois ist bereits 1965 gestorben. Erst 2001 erwirbt der Staat die Villa und kann sich fortan um den Erhalt kümmern.

Eine Perle ist das Hotel erwartbar nicht, aber ist es für ein hellhöriges Hotel im Industriegebiet weit weniger schlimm als angenommen. Es besticht vor allem durch die Nähe zum Stadion Stade Pierre-Mauroy dort steigt um 21:00 das Derby OSC Lille Lens.

Zunächst statten wir der hübschen Innenstadt von Lille noch einen Besuch ab, wir sind angetan, nur der Belfried ist nicht mehr offen. Wir müssen also ggf. wiederkommen. Wenn wir das indes abhängig vom Derby machen, dann wird das nix mehr, eine einzige Enttäuschung. Volles Stadion ja, aber Gästefans nicht zugelassen und – wahrscheinlich deshalb – auch keiner in nennenswerter Derbystimmung. Kein Kribbeln, kein elektrisierender Support der Curva, kein Stadion in Supportlaune. Okay, nach vier min steht es 0:1, 33 min später 0:2, das zieht einem schon mal den Zahn. Es wird nix mehr, sowohl mit dem Sieg, als auch mit dem Support, als auch mit dem Derby. Schade. 1:2 geht das Heimspiel verloren.

Am nächsten Tag steht die Rückfahrt an, wir haben phasenweise den wirklich wirklich guten, lustigen und großartigen Podcast Jogo Bonito am Start und der trägt uns genauso wie unsere Musikauswahl, bei der wir von Beethoven bis Metallica alles dabeihaben.

Aber natürlich bin ich nach sieben Stunden Fahrt froh, Otfried in Bielefeld abgesetzt zu haben und mich dann zwei Stunden später endlich auch.

Ein geiler Urlaub wars. Obwohl auch den einen oder anderen Kilometer mit dem Auto unterwegs, kommen wir auf ordentlich km zu Fuß: 136 km gesamt oder 17 km pro Tag. Aktiver Aktivurlaub sozusagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.