Mitten im Winter hat SchAppi die fabelhafte Idee, das Länderspielwochenende im September für einen Trip nach Spitzbergen zu nutzen.
Das klingt dann noch abgefahrener als die gleichzeitige Option Nordirland, vor zwei Jahren das letzte Mal besucht, ist schon länger ein Ziel und so wird fix durchgebucht – also jetzt nicht von mir, SchAppi kümmert sich um alles, ich blocke lediglich die Tage im Kalender und kaufe eine MARE-Ausgabe „Spitzbergen“, die mir ungefähr zeitgleich in die Hände fällt.
Später gesellen sich noch Britta und Veronika zu uns. Und so geht’s los am ersten September-Samstag mitten in der Nacht gen Schönefeld. Den Wagen können wir bei Siegbert abstellen. Er fährt uns kurz rum zum Flughafen, wir dürfen uns also über kostenneutrales Parken am Flughafen Schönefeld inkl. Shuttle erfreuen, sehr gut, wird teuer genug die Reise, das ist mal klar.
Etappe I geht von Berlin nach Oslo. In Oslo dann ganz geschmeidig mit dem Flughafenzug bis zum Nationaltheater, zehn Minuten Laufen noch, direkt am Schloss vorbei. SchAppi hat zentral gebucht, bestens.
Es bleibt noch genug Zeit für Bewegung – das erste Ziel ist ganz lose die Stadt, schnell aber konkret mit Hafen und dem markanten Rathaus. Mächtig beeindrucken sollte der Bau bei der Planung 1930 und mächtig beeindruckt er auch heute noch. Ästhetisch nicht restlos überzeugend, aber eben sehr markant.
Wir schlendern ein wenig am Hafen entlang, kosten hier und da vom feilgebotenen Rentier und lassen uns dann zur Festung Akershus treiben. Die wir ausgiebig mitnehmen, bis rüber zur Bucht, in der die Aida ankert und neben dem miesen Bild, das sie abgibt, auch noch miese Abgase durch die Gegend schleudert. Und es geht mir da gerade gar nicht um Greta oder so, Aida nervt und stinkt einfach.
Weiter durch Oslo, später Essen für zarte 1.700 NOK, was ca. 170 € sind. Zu viert. Ohne Schnick und ohne Schnack. Ein stolzer Preis, uns irgendwie vorher klar, aber hier nochmal recht deutlich. Es wird in den folgenden Tagen so ein diffuses Gefühl bleiben, dass alles irgendwie teuer ist und der Trip extrem teuer ist. Irgendwann ist es aber auch nicht mehr so ganz fassbar. Alles, auch die Postkarte, kann mit Karte bezahlt werden – auch in Spitzbergen, so dass wir dann auch konsequent keine Norwegischen Kronen eintauschen und alles mit Kartenzahlung abwickeln. Sehr bequem, aber definitiv nicht förderlich für den Ausgaben-Überblick. Eine gewisse Beliebigkeit oder Gleichgültigkeit bei der Geldausgabe schleicht sich ein.
Den Sonntag starten wir am Schloss vorbei am Hafen, mit dem Boot geht es rüber nach Bygdøy zur Osloer Museumsinsel: Frammuseum, Kon-Tiki-Museum, Seefahrtsmuseum, Norsk Folkemuseum, Vikingskiphuset, wir haben viele Möglichkeiten und starten mit dem Folkemuseum – ein spannender Gang durch die Geschichte der ländlichen Besiedlung Norwegens. Der heimliche Star, ein wenig versteckt, ist die Stabkirche. Das Innere schlicht, von außen sehr beeindruckend – wie eigentlich alle Stabkirchen. Also zumindest die, die ich kenne:-).
Anschließend fünf Minuten Fußweg zum Vikingskiphuset. Oseberg, Gogstad und Tune, drei Wikingerboote aus dem 9. Jhdt., entdeckt ca. 1.000 Jahre später an eben diesen Orten. Grabstätten waren die Schiffe, mit allerlei Grabbeigaben. Oseberg als Grab für eine Wikingerfürstin reich verziert, Gogstad als altes Seeschiff weniger reich verziert, dafür etwas geschmeidiger. 1893 segelt eine Nachbildung des Schiffes nach Amerika und tritt damit den Beweis an, dass die Wikinger weit vor Kolumbus in Amerika waren. Faszinierendes Thema – faszinierendes Museum. 2025 soll ein umfassender Erweiterungsbau fertig sein.
Die restlichen Museen lassen wir weg, wir haben noch Programm. Die Hochzeit des Figaro in der Osloer Oper, hier ein Duett zum Dahinschmelzen.
Ein markanter, moderner, abgefahrener Bau von 2008 in der Bucht. Einem Eisberg im Polarmeer gleichend steht das Operngebäude mit der riesigen Glasfassade und den Marmorplatten drumherum in der Bucht und ist gleichsam Symbol für das neue moderne Viertel von Oslo: Tjuvholmen.
Klare Kanten, klare Formen setzen sich in das Foyer hinein fort, selbst das Farbenspiel wird übernommen, weiß dominiert, zusätzlich lässt die riesige Glasfassade Licht und Luft und Leichtigkeit entstehen – und die Sonne hinein. Das Holz der Ränge nimmt das warme Sonnenlicht kongenial auf und transportiert es durch die Gänge, hell und warm ist es.
Edle Eiche dann im Zuschauerraum, der mit einer beeindruckenden Bühne aufwarten kann – deren Technik übrigens am Abend komplett ausgespielt wird, als ob man unbedingt zeigen möchte, was die Technik so hergibt. Die Form des Zuschauerraums erinnert an die Semperoper, die vorgehängten transparenten Glasfassaden an Ideen, die das Bauhaus einst in die Welt getragen hat.
Montag dann der Transfer nach Spitzbergen. Der Flieger ist deutlich größer als erwartet und er ist ausgebucht. Vollbesetzt am Rande der Reisesaison gen Arktis hatten wir jetzt nicht erwartet, eigentlich deutlich weniger. Svalbard heißt die Inselgruppe, deren Hauptinsel Spitzbergen und irgendwie sind beide Bezeichnungen richtig und gebräuchlich.
Der Anflug nach Longyearbyen kann besser nicht sein, wir steuern voller Vorfreude und Spannung 78° nördlicher Breite an und haben klare Sicht und strahlenden Sonnenschein.
Und zu dem strahlenden Sonnenschein dann nach der Landung unfassbar klare Luft. Und Ruhe. Es flasht mich immer wieder, wie klar die Luft im Norden ist, wie ruhig es im Norden ist, wie entspannt es ist. Es ist total cool, mit entspannten Menschen im Norden unterwegs zu sein und zu erleben, wie unmittelbar der Organismus drauf reagiert. Wir sind hier am 78sten Breitengrad in der Arktis unterwegs, aber mit 5 °C noch vor der Arktis-Saison. Also von den Temperaturen her. In zwei drei Monaten ist es hier nicht nur dauerhaft dunkel, sondern auch dauerhaft kalt. Richtig kalt – bis zu -50 °C.
Wir lassen uns auf einem ausgedehnten Spaziergang von Longyearbyen und den Bergen und dem arktischen Meer verzaubern, zusätzlich wird das eine oder andere arktische Souvenir gekauft. Immer präsent dabei ist der Eisbär, ob nun als Postkarte, Plüschbär, T-Shirt-Motiv, Fell oder als ausgestopfter Blickfang. Von niedlich bis ästhetisch alles dabei. Man vergisst fast, dass er eine reale Gefahr für die Menschen hier ist, die Fortbewegung außerhalb von Longyearbyen erfolgt nur mit dem Gewehr – für alle Fälle. Wenn man denn einen Waffenschein hat, andernfalls braucht’s einen entsprechenden Begleiter.
Eisbären hatten wir nicht, fast sind wir geneigt zu sagen, dass es schade ist, aber das romantisch-ursprünglich verklärte Bild des Eisbären auf der Eisscholle funktioniert hier schon deswegen nicht, weil einfach keine Eisschollen durch die Gegend schwimmen. Und auf dem Land sind wir denn doch froh, keinem Eisbären direkt begegnet zu sein.
Hannah von der Brauerei hingegen hatte kürzlich Besuch von einer neugierigen Eisbärin. Ganz stolz zeigt sie das entsprechende Video. Unser Abendprogramm ist eine Bierprobe in der Svalbard Bryggeri, der nördlichsten Brauerei der Welt. Bei lecker Pils, Weißbier, Pale Ale, IPA und Stout gibt es die spannende Geschichte der Brauerei zu hören. Die ist eine Geschichte von Leidenschaft und Hartnäckigkeit. Und hat auch was mit der Dunkelheit zu tun und mit dem Bergbau und dem behördlichen Bedürfnis, den Alkoholkonsum aus genau den Gründen zu regulieren.
Eine Resthoffnung auf Eisbären haben wir während der Bootstour, die wir für den zweiten Tag buchen. Unsere Begleiterin verspricht uns bis zu 120 verschiedene Tiere. Wird natürlich bei weitem nix. Belugas immerhin, die unvermeidlichen Möwen, ein Papageintaucher, der wohl den Abflug in den Süden verpasst hat. Kein Eisbär, keine Robben. Dennoch, die Fahrt ist großartig, trotz des wolkenverhangenen Himmels.
Zuerst raus aus dem Adventfjorden Richtung Esmarkbreen. Genau da schwimmen die Belugas vor unseren Augen. Der Gletscher ist gewaltig, aber auch hier ist nicht zu übersehen, dass er mal deutlich größer war, sich mittlerweile zurückgezogen hat.
Auf etlichen Metern Breite erstreckt sich die Eiskante. Unfassbare Stille. Die Crew gibt alles und zieht ein kleines Eisbergchen heran, dazu einen Whisky. Arktisches Eis, den Gletscher vor Augen, an einem Punkt der Erde unterwegs, der nördlicher kaum möglich ist und dazu einen Whisky – uns könnte es schlechter gehen. Da ist der leichte Stilbruch mit dem Eis im Whisky verschmerzbar. Anschließend gibt es ein kleines BBQ mit Lachs, Wal und Spareribs.
Weiter geht die Tour nach Barentsburg. Barentsburg ist genau wie Longyearbyen eine Bergarbeiterstadt, mit dem Unterschied, dass hier noch Kohle abgebaut wird. In Longyear sind wir zwar im Coal Miners Hotel, der Name ist Programm, aber mit aktivem Kohleabbau verdient hier kaum einer mehr sein Geld.
Anders in Barentsburg, wo vor allem Russen und Ukrainer nach wie vor Kohle abbauen. Vor allem zum Eigenbedarf, aber es wird auch exportiert. Man muss ein bissel in die Geschichte von Spitzbergen schauen, um zu verstehen, warum hier oben, kurz vor dem Nordpol überhaupt Kohle abgebaut wird. Es ist ohne Zweifel faszinierend hier, aber die Bedingungen insgesamt sind ja nun nicht wirklich einladend. Permafrost, monatelange Dunkelheit, extreme Kälte – ich würde sicherlich nicht als erstes darauf kommen, hier Kohle zu fördern.
Vermutlich waren die Wikinger schon hier, aber als eigentlicher Entdecker gilt Willem Barents, der die Inselgruppe um 1600 auf der Suche nach der Nordostpassage entdeckt und sie nach den spitzen Bergen an der Westküste benannte. Die moderne Geschichte beginnt um die Jahrhundertwende, als weitreichende Kohlevorkommen gefunden werden mit waagerecht und dicht unter der Oberfläche liegenden Flözen.
Die erste ständige Grubensiedlung gründet John Munroe Longyear 1906. Zunächst Longyear-City, später im Norwegischen Longyearbyen, die heutige Hauptstadt der Inselgruppe. Zwischen 1900 und 1920 entstehen mehrere Bergbauunternehmungen, die Kohlegruben auf Spitzbergen eröffnen. U.a. eben auch die Arctic Coal Company mit Longyear. Zu der Zeit hat Spitzbergen den Status als No-Mans-Land und wer einen Claim aussteckt, sichert sich die Ansprüche. Genaue Regeln darüber gibt es jedoch nicht.
Ein Vertrag muss her: 1920 wird der Spitzbergenvertrag geschlossen, der die Gebietsansprüche formell regelt. Norwegen erlangt 1925 die Souveränität über Spitzbergen, aber alle Bürger der unterzeichnenden Länder, die sich auf Spitzbergen niederlassen wollen, haben die gleichen Rechte. Es ist die Kombination aus Kohleressourcen und der strategischen Lage, die Spitzbergen so anziehend macht.
Die russische Kohlegrube in Pyramiden wird 1998 stillgelegt, ebenso wie die ehemalige sowjetische Siedlung Grumant. Spitzbergen hat heute etwa 2700 Einwohner, davon 2100 in Longyearbyen und 434 in Barentsburg. Bergbau in Longyearbyen gibt es heute nur noch in Grube 7 zehn Kilometer südöstlich der Ortschaft. Ein Drittel der Kohle wird für das Kohlekraftwerk Longyear verwendet, der Rest wird verschifft.
Gewinne aus auf Spitzbergen erhobenen Steuern sind Norwegen übrigens nicht erlaubt, weshalb die Einkommensteuern sehr niedrig sind und keine Mehrwertsteuern oder Steuern auf Tabakprodukte und Alkohol erhoben werden. Teuer ist es trotzdem – wegen der Transportkosten.
Das schwingt alles mit, während wir durch die Geschichte von Barentsburg laufen, unsere Post im (fast) nördlichsten Postamt der Welt aufgeben und das (fast) nördlichste Lenin-Denkmal ablichten. Der und der Kommunismus als Ziel und Vorstellung dürfen ja denn doch nicht fehlen in einer russischen Exklave.
Der Weg des Schiffes geht dann noch vorbei an Grumantbyen, die Kohle spielt hier keine Rolle mehr, die paar Häuser sind verlassen. Eigentlich macht es keinen Sinn, hier überhaupt Kohle zu fördern, es sei denn man betrachtet das ganze Thema strategisch.
Nach fünf Tagen geht der intensive Kurztrip mit einem Flug Longyearbyen-Oslo-Berlin zu Ende und selbst das durch Verspätung enge Zeitfenster in Oslo wird locker gemeistert. Eine aufregende, schwer interessante, schöne Tour.