AALTO-MUSIKTHEATER ESSEN

2006 zur Inszenierung der Turandot durfte ich dieses herausragende Opernhaus kennenlernen. Was sofort auffällt: dieses Opernhaus ist anders als die klassischen Opernhäuser. Aber nicht minder spannend. Im Gegenteil, vielleicht gerade dadurch noch etwas faszinierender.

Oft sind es ja Tempel der Kultur, die ich gar nicht geringschätzen will, die aber der Hochkultur und einem entsprechenden Publikum huldigen. Das Aalto hingegen hat Zuschauer aller Couleur im Blick. Ausdrücklich. Zu sehen ist es an vielen Details, unter anderem und insbesondere am Eingangsbereich. Er will empfangen, er will Begegnungen schaffen, er will die Besucher verteilen und mischen. Er will aber gerade nicht durch Erhabenheit und Überhöhung überwältigen.

Seit der Turandot 2006 folgen hier unzählige weitere Opern für mich: Wagner, Puccini, Verdi, Mozart usw. Das Aalto ist Orchester und Oper 2008 und 2009 und das ohne Zweifel berechtigt.

Zur Wiederaufnahme der Turandot 2018 gönne ich mir neben der Karte eine ausführliche Führung durch das Haus. Ich werde nicht enttäuscht.

Abriss der Entstehung

Mit 650 Sitzplätzen erweist sich das Essener Grillo-Theater in den 1950er Jahren als zu klein. 1959 wird daher ein Ideenwettbewerb für den Bau eines neuen Opernhauses initiiert, den Alvar Aalto klar gewinnt. Die Pläne entwickelt er mehrfach weiter, 1964 soll der Bau zur Ausführung kommen, doch letztlich fehlt das Geld. Nächster Anlauf 1976. Vier Monate vor seinem Tod 1976 stellt Aalto die baureifen Pläne fertig, doch das Projekt wird erneut gestoppt.

Schließlich wird 1981 die Umsetzung des Aalto-Projekts dem Architekten Harald Deilmann übertragen. Er verlegt den Eisernen Vorhang vor den Orchestergraben, wodurch die Plätze mit Hör- und Sichteinschränkungen reduziert werden können. Der Eiserne Vorhang wird zudem geteilt. Ein Teil wird von unten hochgefahren, ein Teil von oben runtergefahren. Nebeneffekt ist, dass er so auch ganz elegant in Inszenierungen eingebunden werden kann.

Deilmann vergrößert die rechte Seitenbühne und er verbessert die akustischen Bedingungen im Zuschauerraum. Er schafft über der akustisch transparenten Deckenabhängung zusätzlichen Nachhallraum. Zusätzlich wird die Holzstabschraffur, die die Balkonbrüstungen im Zuschauerraum zieren, im oberen Bereich durchbrochen, um hier keinen akustischen Wellenbrecher zu haben.

Alle Änderungen müssen eng abgestimmt werden mit Aaltos Witwe und Nachlassverwalterin. Diese Diskussionen dürften die eigentliche Herausforderung für Deilmann gewesen sein.

Am 15. November 1983 ist die Grundsteinlegung, am 25. September 1988 ist die Eröffnung mit Richard Wagners Meistersingern.

Beschreibung

Die organische Umgebung des Essener Stadtgartens wird von Aalto bei der Planung des Theaters einbezogen. Auch wenn es zwei verschieden hohe Bauelemente sind, steigt das Dach gleichmäßig an, Aalto will mit dieser Gestaltung weg vom Kastenbau der meisten Theaterhäuser, welche von einem hohen Bühnenturm dominiert werden. Die Fassade ist mit hellen Natursteinplatten versehen. Vorgesehen war feinster Marmor, doch der kommt nicht zur Anwendung in Zeiten von saurem Regen und hohen Umweltbelastungen.

In der nordwestlichen gewellten Frontfassade befinden sich die Besuchereingänge. Die Gestaltung ist ungewöhnlich, aber für Aaltos Idee des Opernhauses konsequent. An der Südfassade ist die angestrebte Verbindung von Grünflächen und Gebäude deutlich.

Bekannt ist den Planern nur zu gut, dass das Ruhrgebiet von diversen Stollen gewissermaßen unterkellert ist, der Bergbau hat das Revier nachhaltig strukturiert. Die Möglichkeit, dass hier etwas absackt, ist gegenwärtig. Auch heute noch. Für ein Gebäude dieser Dimension ein nicht zu unterschätzendes Problem.

Die Lösung ist einfach wie genial: das Aalto wird nicht auf einer Platte gebaut, wie es der Entwurf eigentlich vorsieht, sondern auf zwölf Platten. Oder anders. Das massive Opernhaus ist schon ein organischer, zusammenhängender Bau, aber er besteht bei genauerem Hinsehen aus zwölf einzelnen Bauteilen, die jeweils für sich stehen und mit dem eben manchmal nicht ganz stabilen Untergrund arbeiten können. Und, so die Idee der Planer, lieber sackt ggf. ein Teil etwas ab, als dass das ganze Haus statisch beeinträchtigt wird. So ist – streng genommen – der Zuschauerraum ein anderer Gebäudeteil als der Gebäudeteil, in dem sich der Orchesterraum befindet. Wenn man darauf hingewiesen wird, dann sieht man die Leisten sofort, früher habe ich diesen keinerlei Bedeutung zugemessen.

Innenausbau

Egal, ob direkt oder über den Kassenbereich, irgendwann ist man in der großzügigen Garderobenhalle – niedrige Raumhöhe, heller Marmorboden, keramikverzierte Säulen bestimmen das Bild genauso wie der gewellte Garderobentresen. Alles ist darauf ausgelegt, hier nicht der Hochkultur zu huldigen, sondern einen Raum für Begegnungen zu schaffen, einen Raum für alle Teile der Bevölkerung, einen Raum, der nicht durch Höhe überwältigt, einen Raum, der einlädt. Ein zutiefst sozialer Ansatz, den man gerade bei älteren Opernhäusern mit ausladendem Vestibül so nicht findet.

Ein kleiner Treppenabsatz führt in die tiefer liegende Cafeteria, zurück in den Garderobenbereich oder ins helle, offene, große Foyer. 14 Meter ist es hoch. Weiß dominiert, hohe Fenster strukturieren und automatisch wird der Blick auch auf die ausladenden Balkone gelenkt. Farbige Gestaltung oder gar Bilder sucht man vergeblich. Alles ist auf‘s Wesentliche reduziert. Der Mensch und die Architektur treten in eine aufregende Wechselwirkung. Die verschiedenen Treppen unterstützen diesen Eindruck. Die Formen sind an vielen Stellen geschwungen, so als folgen sie Wellenbewegungen. Dadurch ergeben sich ständig neue Perspektiven. Dennoch ist die Formensprache äußerst klar.

Name und Herkunft als Verpflichtung gewissermaßen – Aalto heißt im Deutschen Welle und Finnland hat mit seiner Lage und den tausend Seen ja nun mehr als eine Welle. Strenge Symmetrien sind nicht Aaltos Sache, der Mensch ist auch nicht symmetrisch und Ziel seiner Architektur ist halt der Mensch. Wellen im Kleinen, Wellen im Großen: die Garderobe ist eine einzige fließende Welle, die kachelverzierten Säulen ergeben ein harmonisch rundes Bild, die Balkone sind erinnern an Wellen. Ecken, auch an den Treppen, sind so gut wie Fehlanzeige.

Zuschauerraum

Für den Zuschauerraum hat man den Begriff des asymmetrischen Amphitheaters gefunden.

Zwar sind die Sitzreihen klassisch ansteigend und klassisch im Halbkreis um die Bühne angeordnet, gleichzeitig aber ist diese Anordnung auch mehrfach durchbrochen:

  • durch einen eben nicht genau in der Mitte angeordneten Mittelgang
  • durch eine asymmetrische Anordnung der Sitzreihen (15 Sitzreihen auf der rechten, 21 Reihen auf der linken Seite)
  • durch die genauso geschwungene Rückwand mit ihren drei Rängen. Da sind sie wieder, die Wellen.

1125 Zuschauer fasst das Aalto heute.

Der Zuschauerraum ist ebenso klar wie das Foyer. Und genauso geschwungen. Sitze, Wände und Decken zeigen sich in tiefem dunklem Blau, die drei geschwungenen Balkonbrüstungen in strahlendem Weiß. Wunderbarer Kontrast. Das Blau hat dramaturgische Hintergründe, so werden Inszenierungen am wenigsten gestört. Ich sehe darin allerdings auch gern eine Reminiszenz an den Finnen Alvar Aalto.

An den Seitenwänden im Zuschauerraum zur Bühne hin sind dominante Plastiken. Mit ihrer geschwungenen Form erinnern auch sie an Wellen. Ich favorisiere das Bild, dass auch hier das am Meer gelegene Finnland zu sehen ist. Wenngleich diese langen geschwungenen Hölzer vor allem akustische Gründe haben. Unterschiedlich lang, unterschiedlich breit, unterschiedlich dick sollen sie die akustischen Schwingungen des Orchesters, des Chors, der Solisten aufnehmen und im Raum verteilen. Es gibt noch weitere Elemente, die die Funktion übernehmen, die in klassischen Opernhäusern der riesige Kronleuchter übernimmt. Hier allerdings hat Aalto darauf verzichtet.

Bühne und Orchestergraben

Die 530-Quadratmeter-Bühne ist mächtig, sie zu bespielen ist eine Herausforderung. Wenn es gelingt – und Essen ist es bisher immer gelungen – ist es ein Genuss. Zusammen mit Seitenbühnen usw. hat die Bühne 1750 Quadratmeter. Dass der Orchestergraben rund 100 Musiker fasst, ist nicht zwingend neu, neu ist, dass das Orchester hier sichtbaren Platz hat.

Ein Gesamtkunstwerk.

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